Peter Weibel
Zwei primäre Quellen des Ausdrucks sind Motorik und Graphismus. 35.000 Jahre vor unserer Zeit finden wir in Knochen eingeritzte kufenförmige Linien oder Folgen von Kerben, auf kleinen Blättchen aus Stein oder Holz finden wir Spiralen, gerade Linien und Anordnungen von Punkten. In diesen ältesten Beispielen rhythmischer Äußerungen ist im gleichen dynamischen Vorgang der Graphismus eingeschlossen. Waren es Jagdzeichen, eine Art Buchhaltung oder Hilfsmittel für Beschwörungs- und Deklamationsprozesse? Der abstrakte Charakter der Darstellung leitet uns jedenfalls an, den Ursprung des graphischen Ausdrucks im Abstrakten zu sehen.
Die abstrakte Folge von Strichen und Punkten unterliegt aber einem Zwang zur Gestaltung. Die Motorik intendiert nämlich zur Rhythmik, der Graphismus zur Form, wobei Rhythmus Gestalt in der Zeit und Form Gestalt im Raum ist. Dieser Zwang, diese Intentionalität haben mit jenem Werkzeug zu tun, das eben die Kerben und Kreise auf Stein, Knochen und Holz geschaffen hat, mit der Hand. Der Aktionsmodus der Hand aber kreist um das Greifen. Suchen, Drehen, Greifen, Schieben sind für die Bewegungen der Hand charakteristisch. Weil sie dem Zweck des Ergreifens von Gegenständen dienen, haben Arm und Hand eine osteo-muskuläre Ausstattung, welche sie zu Werkzeugen macht, somit haben sie mechanische Merkmale. Die bloß rhythmische Motorik der Finger und Hand endet im programmierten Prozeß des Greifens nach dem Gegenstand, sei es ein Stück Nahrung, sei es ein anderes Wesen, sei es zur Konsumption, sei es zur Kommunikation. Da in der Hand wegen ihrer mechanischen Merkmale Gestik und Werkzeug vermischt sind, ist auch der bloß abstrakte Graphismus darauf programmiert, in gegenständlichen Formen zu enden. Rhythmisch-motorische Folgen von Strichen und Punkten intendieren über abstrakte Linienschwünge, Spiralen, Kreise zu gegenständlichen Figuren von Menschen, Tieren, Gegenständen. Da die osteo-muskuläre Ausstattung der Hand deren gestische Möglichkeiten bestimmt und diese technische Gestik wesentlich mit dem Greifen (nach Gegenständen) verbunden ist, ist die Geburt des Gegenstandes aus dem Graphismus gleichsam evolutionär vorprogrammiert.
Zitkos Kunst ist anzumerken, wie schwer es ihr fällt, den Gegenstand aus dem Graphismus gebären zu lassen. Zitko will möglichst lange im Dunkel des Graphischen ausharren. Er will in der Nähe des Ursprungs des Graphischen bleiben und verzögert die Geburt des Gegenstands bis zur Verweigerung. Wer so wie Zitko den programmierten Prozeß vom Graphischen zum Gegenstand stört, immer wieder zur graphischen Quelle zurückkehrt und nur auf verwickelten, komplizierten Umwegen zum Gegenstand kommt, widersetzt sich nicht nur, sondern setzt sich auch zur Wehr. Wer den Gegenstand ungeboren lassen will, widersetzt sich der osteo-muskulären Ausstattung der Hand und damit der technisch-mechanischen Gestik. Er will die Geste vom Werkzeug befreien, die Hand von ihren mechanischen Merkmalen. Daher rührt das Nervöse, Nervige, Infantile, Ungekonnte, Unbeherrschte, Psychopathische von Zitkos Graphismus, weil er sich nicht unterwerfen will – nicht der Glätte der technischen Gestik, nicht der Mechanik eines osteo-muskulären Werkzeuges, nicht dem Gegenstand und nicht der Gesellschaft. Wer das Greifen nach dem Gegenstand angreift, verweigert die Reduktion des Graphischen und will die Geste weiterentwickeln, über das Mechanische hinaus ins Spirituelle, sucht Zustände der Ergriffenheit. Die Corrida des Graphischen hat als Tod den Gegenstand und als Sieg die Ergriffenheit, und Zitko will leben, auch wenn der Lebenswille schon beim Schreiben des 2. I absackt. Wer den Gegenstand ungeboren lassen will, den Zustand des Ungeborenen sucht, will nur scheinbar das Sterben lernen, in Wahrheit aber ein anderes Leben als das vergegenständlichte, kommerzialisierte, mechanische, verengte und begrenzte Leben finden, das ihm die Gesellschaft vorsetzt. Sein rhythmischer Graphismus sind daher Beschwörungsformeln, ihn über den Ursprung des Graphischen in einen ursprünglichen Zustand (der Ekstase, der Freiheit) zu versetzen.
Die Ausgesetztheit seines Graphismus widersetzt sich der Erniedrigung des Menschen zum Werkzeug durch den Staat. Sein mehrdimensionaler, das Greifen transzendierender Graphismus will sich keinem Zwang (formaler oder gesellschaftlicher Natur) unterwerfen, keiner wie auch immer gearteten Programmierung, sondern dimensionale Freiheiten setzen. Die Gefahr, welche das Verharren im Zustand der Geburt bedeutet, wie er in der Motorik der natalen Hand zum Ausdruck kommt, nämlich auf der Schwelle zwischen Leben – und Tod stehen, findet ihre Überwindung im gleichen Mittel wie die Überwindung der Mechanik der Hand, nämlich in den neuen dimensionalen Möglichkeiten der Geste und des Geistes. Zitkos Kunst kreist um den Ursprung des Graphischen und um die Geburt des Gegenstandes aus dem Graphismus, in beschwörenden schwermütigen Blättern, auf die Linien, Striche, Flecken und Figuren in komplexen Schichten-Verfahren eingekerbt sind, weil er dort sich noch nicht eingeschlossen fühlt, umstellt von einer mechanischen Welt fester Gegenstände, weil dort die Formen der Gegenstände dem Ausdruck, den Emotionen, den Bedürfnissen, den Empfindungen noch keine Grenzen setzen, weil er dort die Quelle eines ursprünglichen Lebens wähnt. Wer den Gegenstand ungeboren oder nur kaum oder opak gebären lassen will, will der Erfahrung keine Grenzen setzen. Wer die gestischen Möglichkeiten über gegenständliche Formen hinaus erweitern will, will ein nicht eingeschlossenes, unbegrenztes Leben beschwören.
Zitkos Kunst gemahnt uns, daß die menschlichen Bedürfnisse die feste Gegenstandswelt transzendieren, daß die Formen der Gegenstände der Erfahrung und Erkenntnis keine starren Grenzen setzen können, weil sie von eben diesen herkommen.
Von dieser transzendierenden Sehnsucht spricht die Zeichnung des gedrückten, dem Druck erliegenden, liegenden Mannes, der seinen Arm nach einem freien, mit Flügeln bewehrten, beweglichen, fliegenden, fliehenden Vogel ausstreckt.
Wenn die Schwermut so schwächt, daß ihr sogar die Kraft und der Mut fehlen, sich darzustellen, ist sie an einer Grenze angelangt. Zitkos Graphismus balanciert auf dieser Grenze. Seine graphischen Gesten berichten von Verzweiflung und Wut, seine Linien sind Nachrichten von körperlichen Reisen durch Gelenke, Sehnen, Muskeln und Nerven. Er verliert sich tatsächlich im Strich- und Farbenwald. Seine Zeichnungen sind Grenzformen. Wenn Farben Explosionen sind, die lang andauern, berichten Zitkos Farben von unterirdischen Explosionen, von Feuern, die das Wasser der Wehmut kaum löschen kann. Weil Gegenstandsformen nicht die Formen der Grenze sind, kann er untertauchen, an die Quelle zurück. Er kommt zurück, ohne Maske, mit Farben, die keine Fassade sind, mit Formen, die keine Grenzen kennen.
Dieser Text wurde publiziert in: Otto Zitko, Museum van Hedendaagse Kunst, Katalog, Gent, 1984. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.