Andreas Spiegl
Die These wird dahin gehen, in den Zeichnungen und vor allem Raumzeichnungen von Otto Zitko ein Stück weit Architektur erkennen zu wollen. Dafür will ich im ersten Teil auf das Verhältnis der Moderne zur Zeichnung und Architektur eingehen, um dann in einem zweiten Schritt die Verkehrung dieser Beziehung zwischen Linie und Raum im Werk von Otto Zitko nachzuzeichnen.
Um das Verhältnis von Raum und Zeichnung oder von Raum und Linie beschreiben zu wollen, scheint es angemessen, einen Blick in die Mathematik zu werfen. Wenn man etwa den Raum beziehungsweise das Volumen eines Würfels berechnen will, braucht man als Angabe nur die Länge einer Seite. Die Länge einer Seite meint in diesem Fall genauer die Länge einer Kante des Würfels. Also: Hat ein Würfel beispielsweise eine Kantenlänge von drei Zentimetern, dann multipliziert man einfach die identen Kantenlängen der Breite, Länge und Höhe des Würfels miteinander: 3 cm x 3 cm x 3 cm = 27 cm3
Diese 27 Kubikzentimeter stehen für den Rauminhalt unseres Würfels. Was als Raum erscheint, gibt sich mathematisch als Produkt vom Wissen um eine Kantenlänge oder – wenn man so will – als Summe von Linien zu erkennen, die miteinander multipliziert werden. Was als Raum erscheint, ist das Verhältnis von Linien zueinander. Der Raum ist nicht mehr als das Produkt von Linien. Das gilt für den Würfel gleichermaßen wie für die Architektur eines Gebäudes, die sich auf Linien reduzieren lässt. Wer ein Haus entwirft, greift zunächst einmal zu einem Stift und einem Blatt Papier und zeichnet Linien in einem entsprechenden Verhältnis zueinander. Grundriss, Aufriss, Schnitt und so weiter. Dieses Verhältnis der Linien zueinander geht dem Raum voraus, der dann gebaut wird. Und selbst beim Bauen werden unentwegt Linien gezogen, entlang deren die Materialien ausgerichtet werden: hier das Senklot, da die Schlagschnur und die Kreidezeichnung am Boden für den Bagger. Was als Architektur erscheint, ist das Produkt einer Zeichnung von Linien, die einen Raum evozieren.
Um das Volumen eines gebauten Raumes erfassen zu wollen, orientieren sich die Augen wieder an Linien, die den Raum begrenzen: an den Längen und Höhen der Wände, an den Ausmaßen der Einschnitte für Türen und Fenster, an der Distanz zwischen Boden und Decke et cetera. Was als Raum erscheint, gibt sich als Produkt von Linien zu erkennen. Diese Linien umspannen nur Flächen, die in ein Verhältnis zueinander gebracht werden und einen Raum dazwischen versprechen. Das Erleben von Raum wäre demnach einfach der Nachvollzug dieses Versprechens der Linien. Je nach Standpunkt erscheint dieses Versprechen als Außenraum oder Innenraum.
Wenn man so will, trennt den Außenraum vom Innenraum nur eine Linie. Diesseits und jenseits der Linie gelten unterschiedliche Regeln, die mit dem jeweils versprochenen Raum assoziiert werden. Mit der Moderne und der damit geforderten Autonomie der Kunst entwickelte sich die Vorstellung eines Raumes, der allein der Kunst vorbehalten und allein dieser dienlich sein sollte. Frei von allen Abhängigkeiten und fremden Repräsentationsansprüchen sollte die Kunst in einem allein für sie errichteten Raum präsentiert werden können. Das Produkt dieser Raumvorstellung für die Kunst war der so genannte White Cube, ein weißer Würfel, dessen Qualitäten darin bestehen hätten sollen, sich im Sinne der Konzentration auf die darin ausgestellten Exponate so weit als möglich zurückzunehmen und gleichermaßen den Außenraum zum Verschwinden zu bringen: ein reines Innen, das sich aus der Perspektive der Kunst als möglichst neutrales Ambiente zu erkennen gibt, das ihr letztlich äußerlich bleiben sollte. Was als Innenraum erscheint, meint nur einen Raum außerhalb der Kunst: ein Innen als Außen. Diese Vorstellung von neutral gehaltenen, institutionellen Räumen für die Kunst wurde in der Moderne vorgezeichnet und hat sich trotz der vielen kritischen Interventionen bis in die Gegenwart erhalten. Nach wie vor folgt ein Großteil der Kunstinstitutionen und der darin offerierten Ausstellungsräume diesem Bild. Selbst wenn die Wände transparenter werden und sich als Glasflächen aufspannen, gilt die Markierung der Linien und ihrer Geometrie. White Cube, Glass-Cube, Cube.
Brian O’Doherty hat in seinem Buch mit dem Titel Inside the White Cube nicht nur die Entstehung dieses weißen Raumes für die Kunst nachgezeichnet, sondern auch eine Entwicklung der Kunst, die sich sukzessive in diesen Raum ausdehnt, um in letzter Konsequenz mit diesem weißen Würfel, der selbst zur Kunst wird, zu verschmelzen.(1) Mit anderen Worten: Das Gebäude, das die Kunst beherbergen sollte, sollte selbst zur Kunst werden. Entscheidend scheint mir hier aber die Ergänzung zu sein, dass es sich bei diesen modernen weißen Würfeln auch um architektonische Reduktionen der Räume auf geometrische Grundformen handelte. Das Zurücknehmen der materiellen Substanz und der entsprechenden Sprachlichkeit lässt die zugrunde liegende Geometrie dieser Räume umso klarer hervortreten. Und verschwistert mit dieser Geometrie der Raumformen erscheint der Eindruck der Linien, die ihnen planungstechnisch vorausgehen.(2) Wenn man so will: Die architektonische Sprache, die sich mit dem White Cube und der Moderne entwickelt hat, tendiert dazu, einen Blick durch die materielle Bausubstanz hindurch auf die Pläne und ihre Linien zu erlauben. Die leeren und weißen Ausstellungsräume erscheinen wie die materielle Übersetzung einer Zeichnung in die Behauptung eines Raumes. Klare Wände, glatte Flächen, gerade Linien. Es würde zu weit führen, hier eine Geschichte der modernen Architektur und des White Cube nachzuzeichnen, aber vorgeschlagen sei die These, dass diese Entscheidung für die Geradlinigkeit der modernen Architektur ein besonderes Licht auf die Bedeutung der Linie selbst und damit auf die Bedeutung von Räumen wirft, die ihre Linearität zum Vorschein bringen. Die gerade Linie – unabhängig davon, ob es sich dabei um einen Strich auf einem Stück Papier oder um eine Mauer- oder Würfelkante handelt – schiebt jeden Gedanken an Individualität in die Ferne, um aus dieser Objektivierbarkeit heraus erst ein Ambiente zu schaffen für das Subjekt, das darin als einzig individuelles erscheint. Auf dieser Basis wird die Geradlinigkeit zur kontrastierenden Folie, von der sich das Subjekt abhebt. Implizit steckt in dieser Geradlinigkeit ein Moment der Verallgemeinerbarkeit, die aus moderner Perspektive dem Subjekt vorauseilt. Paradox daran erscheint, dass diese Verallgemeinerbarkeit jedem Subjekt vorauseilt und das einzelne Subjekt, das dann in diesem Kontext auftritt, nur mehr eine austauschbare Variable markiert. Die Architektur der Moderne stellt auf diese Weise das Subjekt gleichermaßen wie die künstlerischen Arbeiten ganz ins Zentrum des Erscheinens und erklärt sie im selben Maße für austauschbar. Was für das Kunstwerk im weißen Ausstellungsraum gilt – das bei der nächsten Ausstellung durch ein anderes ersetzt wird –, gilt für das Subjekt, das austauschbar wird. Der weiße Ausstellungsraum plädiert für ein indifferentes Verhältnis zu den darin ausgestellten Kunstwerken und letztlich für ein indifferentes Verhältnis zur Öffentlichkeit, die austauschbar wird. In dieser Indifferenz steckt zwar ein unglaublich emanzipatorischer und demokratischer Kern, aber zugleich auch das universalistische Phantasma der Moderne und des entsprechenden Kunstbegriffs. Wie stark dieser Wirkungsmechanismus von indifferentem weißem Ausstellungsraum und Phantasma der Moderne war, brachten Marcel Duchamps Readymades auf den Punkt. Es reichte aus, einen alltäglichen Gegenstand von seiner Funktion zu entbinden und diesen versehen mit allen Indikatoren eines Kunstwerks, in eine Institution zu stellen, um die ideologischen Funktionen dieser Kunstinstitutionen selbst zu exponieren. Was für das Readymade galt, galt auch für die Institution, die weniger einen architektonischen Raum repräsentierte als die räumliche Idee einer Institution. Vergleichbar dem Readymade und einem Alltagsgegenstand, für den es eine Idee und einen Titel zu finden galt, erscheint die Kunstinstitution der Moderne als Raum, für den eine Idee und eine institutionelle Bestimmung zu finden waren. Was dann als Raum erscheint, ist eher die Erscheinung einer Idee als Raum – wenn man so will: die räumliche Struktur einer Vorstellung, eine Raumzeichnung. Wesentlich bleibt hier festzuhalten, dass dieses Paradigma der Moderne, den architektonischen Raum als gebaute Raumzeichnung zu denken, mit dem weißen Ausstellungsraum als Inkunabel verbunden bleibt – unabhängig davon, wie modern oder historisch die ihn beherbergende Architektur sein mag. Mit anderen Worten: Durch die Moderne und ihren Raumbegriff hat sich eine Perspektive für die Raumwahrnehmung entwickelt, die in der Architektur immer auch die zugrunde liegende Raumzeichnung erkennt und mit dem Raum im selben Maße die Übersetzung vom gezeichneten Plan in die Dreidimensionalität identifiziert. Wände, Decken, Fenster und sogar Ausblicke sind nicht nur das Produkt von davor gefassten Zeichnungen, sondern sie meinen auch Zeichnungen – als Architektur maskierte Zeichnungen. Der zugesprochene Funktionalismus (als Wohnraum, als Ausstellungsraum et cetera) war nur eine weitere Maskerade dafür, den Eindruck zu minimieren, dass es sich um Raumzeichnungen und daher eher um Raumvorstellungen als um Gebäude handelte. Was daraus folgt, ist in unserem Zusammenhang von Bedeutung: Wenn es im Kern der Moderne Raumzeichnungen sind, die gebaut werden, dann ist der Raum nur als Produkt von Linien zu denken. Diese Linien evozieren Räume, sie versprechen Räume, die genauso linear zu fassen sind wie die lineare Vorstellung der Zeit in der Moderne – als Teleologie. Diese Räume versprechen ein Ziel, das sie gleichermaßen verkörpern und in die Zukunft verweisen. Der Raum der Moderne ist darin ein Raum der Ankündigung, ein Ort des Versprechens, der ein ambivalentes Verhältnis zu sich selbst unterhält: anwesend und abwesend zugleich – im Wesen imaginär. Was man aus dieser Perspektive lernen kann, ist ein Blick auf die Zeichnung oder, genauer, auf die Linie in der Moderne.
Die Linie der Moderne markiert weniger den Einschnitt in einen Raum oder die vermeintliche Begrenzung eines Raumes oder einer Fläche, sondern sie ist es, die einen Raum oder eine Fläche erst evoziert. Wer in der Moderne mit einer Hand eine Linie zieht, steckt mit der anderen Hand schon in dem von der Linie versprochenen Raum. Was aussieht wie eine Zeichnung, impliziert schon den Raum, der nur mehr anhand der Zeichnung gefertigt werden muss. Dieser Hang der Linie zum imaginären Raum bildet ihren politische Kern, wenn man so will: Die Zeichnung ist das Instrument dafür, das der Moderne implizite Versprechen der Politik abzubilden. In ihrem teleologischen Duktus denkt die Moderne die Gegenwart nur als Übergangsmoment für eine Zukunft, auf die sie zusteuert – als Ankündigung und damit im Wesen als Skizze. Was sie ausgeführt hat, meint sie als Modell. Und genau dieses künstlerische wie politische Insistieren auf einer skizzenhaften Gegenwart, auf deren Modellhaftigkeit und Zeichnung, produzierte gleichermaßen ein infinites Aufschieben ihrer Zielhorizonte wie eine Blindheit gegenüber den weniger modellhaften Folgen, die sie mitzeichnete. Diese Krise der Moderne und ihrer Versprechen bildet zumindest den historischen Horizont der 1960er und 1970er Jahre, in denen die Arbeiten von Otto Zitko ihren Ausgangspunkt nehmen.
Es gibt bereits sehr informative Texte, die den Weg Otto Zitkos von klassischen Bildträgern in die räumliche Expansion seiner Arbeiten beschreiben.(3) Diesen Argumenten, die mit der dreidimensionalen Ausdehnung der Zeichnung eine realräumliche Auseinandersetzung des Subjekts mit der Realität identifizieren, möchte ich hier eine alternative These zur Seite stellen, die dahin geht, in der Zeichnung von Otto Zitko eine Linie zu erkennen, die sich ideologiekritisch gegen die oben beschriebenen Versprechungen der Moderne wendet. Was damit zur Diskussion steht, ist die Emanzipation der Linie und Zeichnung von ihrem imaginären Kern, von ihrer modernen Indienstnahme, etwas zu versprechen – und sei es einen Raum, den sie evoziert.
Wenn ich mit der Moderne und dem White Cube die Austauschbarkeit des Subjekts und der darin repräsentierten Kunstwerke in Verbindung gebracht habe, dann erscheint allein die für Zitko signifikante Strichführung als evidentes Plädoyer für ein individualisiertes Subjekt, das sich hier manifestiert. Wer eine Zeichnung von Zitko gesehen hat, erkennt seinen Duktus wieder, wo immer dieser sichtbar wird. Am anderen Ende der Geradlinigkeit angesiedelt, stehen hinter diesen nachvollziehbaren Bewegungen und Windungen Entscheidungen, die Richtung zu wechseln, unerwartete Kurskorrekturen, Unvorhersagbarkeiten, Überraschungen und Entdeckungen. Einer Linie von Zitko auf ihrem Weg über Flächen und Räume zu folgen entspricht der Lektüre eines Reiseberichts. Aus dieser Perspektive sind seine Zeichnungen buchstäblich abenteuerlich. Und ob der verschiedenen zeichnerischen Spektren, die nebeneinander und einander gegenübergestellt zum Einsatz kommen, erzählen diese Reiseberichte nicht von momentanen Befindlichkeiten des Reisenden, sondern von einer sehr geplanten und strukturierten Reise, die gerade deshalb in der Lage ist, in der Gemengelage von Ereignissen eine Form von Orientierung anzubieten. Diese Orientierung zielt weniger auf die Klärung räumlicher Strukturen als auf das Insistieren eines Subjekts im Raum und in der Zeit. Wenn die architektonischen Raumachsen durch seine Linien verspielt, verschleiert, verdreht und gebrochen werden, so erzählen sie doch und manifest von einem Einzelnen, der hier am Werke war. Jeder Zentimeter insistiert aufs Subjektive, das sich klar abhebt von der imaginären Verallgemeinerbarkeit des Raums. Zitkos Linien evozieren nicht einen Raum oder bestätigen diesen in seiner vermeintlichen Subjektivität, sondern sie erklären das Subjekt selbst zu einer räumlichen und zeitlichen Instanz. Er setzt den Raum und die Zeit des Subjekts gegen die Vorstellung eines versprochenen Raums und Ziels, die von der Institution oder von ihrer Architektur vorauseilend verheißen werden. Wenn seine Linien ein Ziel haben, dann ist es die Signatur eines Subjekts, das seine Wege geht und weiterzieht, um bei der nächsten Möglichkeit, im nächsten Raum, auf dem nächsten Bildträger, wieder zu bestätigen, dass es hier war. Unverwechselbar und ungeachtet der verschiedenen Richtungen und Tempi seiner Reise.
Die Divergenz seiner Wege und Geschwindigkeiten ist konstitutiv für die Vorstellung des Subjekts, das hier manifest wird. Wie ein Reisender zieht dieses Subjekt durch Räume und Augenblicke, um sich diesen auszusetzen. Was hier evident wird, ist nicht ein gleichermaßen moderner Zug einer Innerlichkeit, die beschworen wird und sich expressionistisch und kulturkritisch über alles hinwegsetzt, sondern plädiert wird für eine Form des Dialogischen, die stets bestätigt, dass hier verhandelt wird. Was in dieser Verhandlung zur Diskussion gebracht wird, sind Weltanschauungsmodelle. Zitkos Argumente machen deutlich, dass der von der Moderne gespeiste Raum- und Zeitbegriff und die damit verbundene Politik der Ankündigung und Versprechungen für ihn nicht haltbar sind. Zitkos Linien stemmen sich gegen die imaginären Räume der Moderne, für die das moderne Subjekt nur eine austauschbare Variable bildet. Die Organisation seiner Zeichnungen sieht Berührungspunkte zwischen den verschiedenen Räumen vor, die das architektonische Prinzip der Raumfolgen außer Kraft setzen: Wenn eine Linie an einer Mauerkante zu enden scheint, wird sie je nach Standpunkt der Betrachtung von einer anderen Linie im anschließenden Raum wieder aufgegriffen und weitergetragen. Das Prinzip des Subjekts, das hier einen Raum repräsentiert, gilt auch für das betrachtende Subjekt, das sich durch und entlang dieser Linien bewegen muss und damit selbst einen je individuellen Raum hervorbringt. Für die Gestaltung der Linienführung gelten die gleichen Bedingungen wie für die Betrachtung. An den beiden zeitlichen Enden der Linien steht jeweils ein Subjekt, das sich einer Reise aussetzt.
Die Tatsache, dass Zitko seine Zeichnungen im Raum und auf der Fläche wie ein Bild organisiert, markiert sein Bekenntnis zur Konvention eines Genres. Das Bildhafte seiner Zeichnungen ist die letzte Erinnerung an die Geschichte seines Mediums, das sich über Bilder vermittelte. Wer an eine Zeichnung denkt, assoziiert deshalb gleich die Vorstellung eines Bildes mit. Mit seinen Raumzeichnungen hat Zitko die Vorstellung dessen, was noch ein Bild zu nennen wäre, an die Grenzen getrieben. Die klassische Position eines betrachtenden Subjekts gegenüber einem Bild wird hier aufgehoben. Man steht nicht mehr vor einer Zeichnung, sondern in einer Zeichnung, die weder Anfang noch Ende zu haben scheint. Hat man sich einmal auf die Reise entlang seiner Linien begeben, erkennt man, dass diese Reisen auch da nicht zu Ende sind, wo vielleicht die Bildflächen oder die Raumgrenzen seiner Arbeiten enden mögen. Sie enden nur vorübergehend, temporär, um in der nächsten Arbeit wieder aufgegriffen und weitergezogen zu werden. Was als Bild oder Raumzeichnung den Charakter eines abgeschlossenen Werks vermitteln könnte, wird über dieses Prinzip der Temporalität aufgehoben. Dieses Insistieren auf einem Werk, das sich allein am autobiografischen Fortschreiben einer Signatur des Subjektiven orientiert, wird gerade an den Raumzeichnungen evident, die nach dem Ende einer Ausstellung übermalt werden und in die Unsichtbarkeit des Historischen abtauchen. Was von diesen bleibt, ist die bloße Erfahrung eines Subjekts, das sich für einen bestimmten Zeitraum diesen Plädoyers für ein Hier und Jetzt ausgesetzt hat. Was immer sichtbar wird, ist ein Ausschnitt aus der Zeit, eine temporäre Spur.
Die Idee, die Arbeiten seiner letzten zehn Jahre in einem Buch wie diesem zusammenzufassen, meint in diesem Sinne mehr als einen retrospektiven Katalog. Im Falle von Zitko entspricht diese Werkschau eher einem Kalender, einem Tagebuch oder Reisebericht. Was man mit diesem Buch in Händen hält, ist eine Art Uhr, die nach einem sehr eigenwilligen Rhythmus schlägt und die Augenblicke genauso misst wie die Jahre, Tage und Wochen. Im Unterschied zur modernen Teleologie und ihrem Versprechen eines Zielhorizonts enthält sich dieser Kalender einer Vorschau, einer Prognose oder Ankündigung. Dieser Horizont bleibt offen und unbelehrbar. Ihm ist die Wiederholung genauso vertraut wie das Experiment, die Differenz oder das Abenteuer.
Dieser Gemengelage an Zeitbildern bleibt das Geradlinige fremd. Damit ist Otto Zitko ein Kind seiner Zeit, ein Nachmoderner, wenn man so will. Im Unterschied zu anderen Zeitgenossen aber hat Zitko die Verweigerung, das moderne Erbe fortzuschreiben, nicht mit einer Vielfalt an Zitaten unterschiedlicher historischer Herkunft beantwortet, sondern mit dem Versuch, ein institutionell etabliertes Genre wie die Zeichnung gegen die Institution selbst zu wenden, ohne dabei das Genre zu verlieren. Zitko ist es gelungen, die Zeichnung aus ihrem modernen Duktus einer imaginären Räumlichkeit zu lösen und – so paradox das angesichts der Raumzeichnungen klingen mag – sie gegen diese Räume selbst einzusetzen, um ihre zeitliche Dimension, ihr autobiografisches Element, als Maßstab fürs Subjekt einzufordern. Die Tatsache, dass die Raumzeichnungen im Dialog mit den vorhandenen dreidimensionalen Räumen den Eindruck von mehrdimensionalen Umgebungen entwickeln, macht sie im Kern zu architektonischen Gebilden. Die These, dass Zitko deshalb gleichermaßen als Zeichner wie als Architekt zu betrachten ist, liegt auf der Hand. Im Unterschied zu seinen modernen Vorgängern, die in der zeichenhaften Architektur den imaginären Charakter dieser Räume und ihrer Versprechungen ausgegraben haben, holt Zitko die Architektur wieder in die Zeichnung hinein. Was Zitkos Pläne repräsentieren, sind zeitgenössische Architekturen. Neben Stahl, Glas, Beton und Holz wird die Zeichnung zu einem Baumaterial für ein Subjekt, das sich anschickt, nicht Räume zu bewohnen, sondern selbst unentwegt Spuren und Signaturen in die Welt zu schreiben, die der Zeit mehr verpflichtet sind als der Vorstellung von Ein- und Ausschlussmechanismen. Zitkos Architekturen haben kein Innen und kein Außen. Sie sind das Haus und die Institution losgeworden, die sie zu beherbergen scheinen. Darin sind sie parasitärer Natur. Sie speisen sich von einem Wirt, den sie zugleich verschlingen. Was sie übrig lassen, ist die Unverdaulichkeit des Subjekts. Man kann es immer wieder übermalen, aber aus der Geschichte wird man es nicht mehr los.
Anmerkungen:
1 Vgl. O’Doherty, Brian: Inside the White Cube. The Ideology of the Gallery Space. San Francisco 1986, sowie die nachfolgenden Editionen.
2 August Schmarsow schrieb dazu: „[…] der Machtspruch der Einbildungskraft richtet Wände auf, wo nur Striche sind, […] die angedeuteten Grenzen nähern sich immer mehr der graden Linie […].“ Schmarsow, August: „Das Wesen der architektonischen Schöpfung“ (1893). In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, S. 471.
3 Vgl. etwa Kravagna, Christian: „Das Subjekt der Raumzeichnung“. In: Loock, Ulrich (Hg.): Otto Zitko. Räume. Kunsthalle Bern, Bern 1996.
Dieser Text wurde publiziert in: Otto Zitko – Die Konstruktion der Geste, Hemma Schmutz, Barbara Steiner, Ingeburg Wurzer (Hg.), Berlin 2008, S. 102–107.